Wer macht die Care-Arbeit zuhause, wenn alle arbeiten?
Am Montag, 29. April 2019, referierte Professorin Dr. Helma Lutz von der Goethe-Universität Frankfurt im Rahmen eines Campus Abends zum Thema „Wer macht die Care-Arbeit zuhause, wenn alle arbeiten? Zum asymmetrischen Verhältnis zwischen Care und Erwerbsarbeit“.
Die Örtliche Gleichstellungsbeauftragte, Professorin Dr. Beate Blank, begrüßte die Besucher*innen zum Campus Abend bewusst unter dem doppeldeutigen Motto „Who cares?“. Wer kümmert sich, und wen kümmert es? Blank verdeutlichte ihr Anliegen, im Rahmen dieser Wanderausstellung den Anteil der Care-Arbeit sichtbar zu machen, der die Erwerbsarbeit erst ermögliche. Das Private sei hier gesellschaftspolitisch zu verstehen und die wissenschaftliche Analyse der Sorgearbeit ist eine Voraussetzung für die Entwicklung neuer Modelle der Verbindung von Care und Erwerbsarbeit. Genau dies fordere der aktuelle Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, erklärte Blank. Im Anschluss an den Eröffnungsvortrag von Lutz diskutierten die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion „Good-practice“ Beispiele der DHBW VS. Die anwesenden Studierenden brachten Vorschläge zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Studium in die Diskussion ein. Diese werden unter der Beteiligung der Studierenden in das neue Projekt der Hochschule, das im Rahmen des Professorinnenprogramms II gefördert wird, einbezogen.
Geschlechterasymmetrie – eine Erfindung der Moderne
Bei der in unserer Gesellschaft vorzufindenden Geschlechterasymmetrie, so stellte Lutz zu Beginn ihres Vortrags heraus, handle es sich um eine Erfindung der Moderne, mit der sich das Bürgertum in der mitteleuropäischen Gesellschaft etablierte. Demnach habe das Bürgertum der Frau die Stellung als Hausfrau und Mutter und dem Mann die des Alleinverdieners zugewiesen. Je besser ein Haushalt im frühen 20. Jahrhundert situiert war, desto mehr Hauspersonal leistete er sich. Dieses Verständnis war mitunter auch charakteristisch für den Kolonialismus, in dem schwarze Dienstmädchen zu einem sichtbaren Merkmal weißer Herrschaft wurden. „Kaum gibt es einen Beruf, an dem die Verachtung der Handarbeit im allgemeinen so unveränderlich haften geblieben ist, wie an diesem. Kein anderer erinnert aber auch bis in die neueste Zeit hinein so an die Sklaverei, wie er: Der Arbeiter verkauft hier nicht nur seine Arbeitskraft, sondern gewissermaßen seine ganze Person, er steht Tag und Nacht im Dienst und unter Aufsicht des Herrn“, so ein Zitat von Frauenrechtlerin Lily Braun aus dem Jahre 1901, das die Ausbeutung der Hausmädchen beschreibt.
Zu Zeiten der Weltkriege verschwanden die Männer aus den Haushalten und zogen in den Krieg, was zur Folge hatte, dass Frauen Erwerbsarbeit übernahmen, die zuvor Männern vorbehalten war. In der anschließenden Nachkriegszeit galten Kinder, Küche und Kirche als Familienideal. Hinter den beruflich erfolgreichen Männern standen Frauen, die die Arbeit im Haushalt klaglos übernahmen. Mit der Heirat schieden junge Frauen in der Regel aus der Erwerbsarbeit aus. „Dienstboten für gesellschaftlich unterbewertete Arbeit standen einst nur einer Minderheit der vorindustriellen Bevölkerung zur Verfügung; die dienstbare Hausfrau steht jedoch heute auf ganz demokratische Weise fast der gesamten männlichen Bevölkerung zur Verfügung“, äußerte der Ökonom und Sozialkritiker Kenneth Galbraith 1973. Die zweite Welle der Frauenbewegung befasste sich mit der Partizipation von Frauen an der Erwerbsarbeit und der Übernahme von Erziehungs- und Care-Arbeit durch Männer. Sie verlangte einen gesellschaftlichen Umbruch samt Wertewandel und verzeichnete diverse Erfolge. Zugangsbarrieren zu Studium und Arbeitsmarkt wurden verringert; Frauen nahmen in der Politik Einzug.
Auch die heutige Arbeitsteilung birgt enormes Optimierungspotential
Im Jahre 2019 sind trotz eines bedeutenden Anstiegs der Frauenerwerbstätigkeit deutliche Defizite in der Gleichstellung spürbar. Bezüglich der Höhe des Gender Pay Gaps, sprich der geschlechterspezifischen Entgeltungleichheiten bei gleicher Arbeit, rangiert Deutschland im europaweiten Ländervergleich auf drittletztem Rang vor der Tschechischen Republik und Estland. Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen sind anhaltend ungleichverteilt. „Nicht nur unter der Woche ist die Aufteilung von Hausarbeit und Kinderbetreuung zwischen Männern und Frauen ungleich. Werktags wird diese Ungleichverteilung häufig in Unterschieden im Erwerbsumfang begründet, an Sonntagen ist dieses Argument wenig überzeugend.“, so zitiert Lutz die Soziologin Claire Samtleben.
Haushaltsarbeit und Pflege werden ausgelagert und kommerzialisiert
Gerade hinsichtlich der Betreuung älterer Menschen ist ein Trend hin zur Auslagerung und Kommerzialisierung der Pflege wahrnehmbar. Die Bevölkerungsentwicklung prognostiziert einen drastisch ansteigenden Betreuungs- und Pflegebedarf. Auch hier zeigt sich, dass die Hauptlast der Pflege- und Betreuungsarbeit in der Regel weiblichen Familienmitgliedern aufgebürdet wird. Obwohl Umfragen zufolge rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen gerne bis zu ihrem Tod zu Hause blieben, gestaltet sich die Umsetzung dessen schwierig. Pflege rund um die Uhr, so Lutz, kostet im Schnitt zwischen 7.000 und 8.000 Euro im Monat. In der Folge werden zunehmend Migrantinnen für diese Arbeit geworben. Hier hat sich inzwischen ein eigener Markt etabliert. Rund 600 spezialisierte Agenturen in Deutschland vermitteln Pflegekräfte, die vornehmlich aus Osteuropa stammen. Rund 600.000 osteuropäische, meist gut ausgebildet Frauen, so schätzt Lutz, erbringen in Deutschland Pflege rund um die Uhr und wohnen dabei im Haushalt der zu pflegenden Person. Es handelt sich um einen Graubereich, der rechtlich nicht ausreichend geregelt, aber akzeptiert ist. Die Polin, „der rettende Engel“, kann übers Internet bestellt werden. Doch nicht nur hierzulande ist es gängig, Menschen aus Niedriglohnländern zur Pflege ins Land zu holen. Weltweit verlässt eine von 25 berufstätigen Frauen für ihre Tätigkeit als „domestic worker“ in einem Privathaushalt ihre Heimat. Dabei wird vernachlässigt, dass die Aufrechterhaltung der Autonomie der einen um den Preis der Aufgabe der Autonomie der anderen erfolgt. Dies ist der Ursprung einer Care-Krise in den Herkunftsländern. Zwar fließen Gelder in die Herkunftsländer, doch geschieht dies auf Kosten der eigenen Familien und Verpflichtungen der Frauen, die somit einen hohen Preis für ihre Tätigkeit bezahlen. So wachsen ihre Kinder in der Regel bei den Großeltern, Geschwistern oder Nachbarn auf, was zur Folge hat, dass die Kinder der Migrantinnen in Polen öffentlich schon als „Euro-Waisen“ bezeichnet werden. Hinzu kommen die hohe Belastung durch alleinige Verantwortung für die zu Pflegenden, die fehlende Anerkennung der Arbeit und Missbrauch durch Lohnprellung oder gar sexuelle Übergriffe.
Was ist die Zukunft der Care-Arbeit?
Während sich die deutsche Zuwanderungspolitik aktuell Pflegekräften aus Asien öffnet und diese aktiv anwirbt, befürworten deutsche Ökonomen eine Deregulierung des Sektors zur Arbeitsplatzbeschaffung im Niedriglohnsektor. Die Situation der Migrantinnen im Pflegebereich bleibt jedoch unverändert schlecht; Interessenvertretungen sind kaum vorhanden und allenfalls bei Wohlfahrtsverbänden oder Kirchen zu finden. Der Markt wird zudem ausgeweitet. Lutz berichtet, dass neben dem Import von Migrantinnen zur Pflege und Kinderbetreuung auch der Export alter Menschen in Pflegeheime in Osteuropa oder Asien zunimmt. Der gesamte Care-Sektor wird zunehmend kommerzialisiert.
Care bleibt ein Zukunftsproblem. Es bedarf einer gesellschaftlichen Debatte über das Verhältnis von Erwerbs-Care-Arbeit als geschlechterdemokratisches Projekt, so Lutz. Wir alle benötigen in der Regel mindestens am Anfang und am Ende unseres Lebens Pflege. Die European Social Platform on Care fordert einen Paradigmenwechsel: den Anspruch auf Betreuung und Pflege als universelles Menschenrecht, eine Zurückweisung des Gewinnstrebens im Pflegesektor und eine Anklage der Überlassung familiärer Care-Arbeit an Frauen als Verstoß gegen das Gleichstellungsrecht.
Diese Forderungen nimmt die neue globale soziale Bewegung „Care Revolution“ auf. Sie fordert eine transnationale Sicht auf Care und neue Modelle der Transformation von Care- und Erwerbsarbeit, beispielsweise in der Einberechnung von Care-Leistungen in den Produktionssektor.
Podiumsdiskussion
Dem Vortrag folgte die Podiumsdiskussion mit Professorin Dr. Beate Blank, Professor Dr. Wolfgang Hirschberger, Professor Dr. Sebastian Klus und der Referentin Professorin Dr. Helma Lutz sowie Professorin Dr. Barbara Schramkowski.
Klus hatte nach der Geburt seiner beiden Kinder Elternzeit genommen und teilt sich nun die Familiensorgearbeit zu gleichen Teilen mit seiner Frau. Er berichtete, dass dieses gleichberechtigte Modell von Sorge- und Erwerbsarbeit beiden Elternteilen sowohl die Verwirklichung im Beruf als auch die selbständige Erziehung der Kinder ermögliche. Er stelle fest, dass sich junge Väter dies zunehmend wünschen, es aber auch ein Umdenken bei jungen Müttern voraussetze. Auch sie seien von Geschlechterstereotypen geprägt und es falle ihnen mitunter schwer, darauf zu vertrauen, dass der Vater genauso gut die Sorgearbeit für ein Kleinkind bewältigen könne. Schramkowski bestätigte diese Wahrnehmung aus Perspektive ihres Mannes, der derzeit mehr Sorgearbeit für die Familie mit zwei Kindern leiste. Er ermögliche ihr damit die Stelle als Studiengangsleiterin in Vollzeit auszuüben und den hiermit verbundenen Anforderungen nachzukommen. Dass der Mann die ‚Hinzuverdiener-Rolle‘ und somit ein Mehr an Care-Arbeit übernimmt ist auch in einer aufgeklärten Stadtgesellschaft, in der die Familie lebt, noch immer kein sozial anerkanntes Modell. Schramkowski betonte auch, dass es für sie als Paar wichtig sei, je nach Lebensphase immer wieder die Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit neu zu gewichten. Hier schloss der Beitrag von Hirschberger an. Er zeigte auf, dass und wie eine Studiengang zu zweit geleitet werden kann. Gemeinsam mit Martin Plag teilt er sich die Leitung des Studiengangs Betriebswirtschaft und Controlling. Beide Professoren sind davon überzeugt, dass dies einen vielfältigen Mehrwert biete: Sowohl für die persönliche Selbstsorge, als auch für den Arbeitgeber Hochschule und nicht zuletzt für die Studierenden. Sie erleben ein „role model“ für ihre Zukunft. Die geteilte Sudiengangsleitung ist ein Modell, das nicht nur, aber auch die Vereinbarkeit von Sorge- und Erwerbsarbeit sowie das Aufbrechen von Rollenklischees und Geschlechterstereotypen an der DHBW unterstützen kann.
Weitere Informationen:
Die Wanderausstellung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Studium an der DHBW wurde vom Zentralen Gleichstellungsbüro des Präsidiums der DHBW konzipiert. Sie zeigt anhand von Kurzbiografien beispielhaft die familiäre Situation von Professor*innen und einer Studentin an verschiedenen Standorten und Fakultäten der DHBW. Die Wanderausstellung kann bis 5. Juli 2019 im Foyer des Gebäudes C (Friedrich-Ebert-Straße 30, Untergeschoss) besichtigt werden. Weitere Informationen erhalten Sie auf der Veranstaltungswebsite.

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