Blickpunkte

Blickpunkt 86

Soziale Arbeit und sexualisierte Gewalt

Nach dieser Vorlesung habe ich vor allem diese wertvolle Erkenntnis: Wir als Gesellschaft haben es in der Hand, das Thema der sexualisierten Gewalt zu enttabuisieren. Ich frage mich daher, welche Komponenten bei dieser komplexen und herausfordernden Aufgabe mitwirken; was ermutigt uns eine stetige Enttabuisierung zu entwickeln und aufrecht zu erhalten? Welche Rolle spielen dabei Sozialarbeitende?

Der Begriff »Tabu« wird im deutschen Sprachgebrauch als etwas beschrieben, das u.a. verbietet, über Dinge zu sprechen oder Dinge zu tun. Tabus sind somit etwas Unausgesprochenes, was im Umkehrschluss den ersten Schritt zur förderlichen Enttabuisierung sichtbar werden lässt: Wir müssen dem Unausgesprochenen Raum geben, indem wir es an- und aussprechen. An dieser Stelle sollten wir als Gesellschaft, insbesondere wir als Sozialarbeitende, den Leitsatz „Prävention schützt vor Intervention“ verinnerlichen. Es muss also ein fortdauernder Prozess geschaffen werden, der Menschen in unserer Gesellschaft eine Bandbreite an Aufklärung bietet. Angefangen im Kindesalter über die Jugend bis hin zum Erwachsenenalter; Aufklärung beginnt erst dann, wenn ein Bewusstsein dafür geschaffen wird. Und weil sexualisierte Gewalt leider überall passieren kann, sollte meiner Meinung nach auch überall ein solches Bewusstsein geschaffen werden wie bspw. im familiären Rahmen, am Arbeitsplatz, in Vereinen und unterschiedlichsten Institutionen.  Wichtig hierbei ist, dass Risikofaktoren minimiert und Schutzfaktoren gestärkt werden. Nicht selten sind Opfer sexualisierter Gewalt ihrem Schamgefühl ausgesetzt oder leiden unter dissoziativen Störungen. Oftmals geben sie sich selbst die Schuld, denken sie hätten dazu beigetragen oder haben Angst, dass sie immer wieder auf das Geschehene reduziert oder darauf angesprochen werden. Folglich wird das Erlebte von vielen Betroffenen verdrängt und zum Tabu. Wir als Sozialarbeitende haben an dieser Stelle den Auftrag genau hinzusehen, mit den Betroffenen zu reden und nachzufragen, was passiert ist. Wir sollten das subjektive Befinden der Thematik erkennen. Ein wichtiges Instrument ist eine empathische Grundhaltung und das aufmerksame Zuhören ohne jegliche Wertung. Des Weiteren ist eine Wertschätzung gegenüber der betroffenen Person als Erfahrungsexpert*in von großer Bedeutung. Auch soll das Gefühl von Glaubwürdigkeit vermittelt werden. Dieses Empfinden kann durch Sozialarbeitende verstärkt werden, indem weitere Schritte zur Aufarbeitung der gewaltvollen Erfahrung aufgezeigt werden und dem Gegenüber deutlich gemacht wird, dass dieser emotionale Weg nicht allein bestritten werden muss.

Die »#metoo-Bewegung« und der sexuelle Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zeigen, was passiert, wenn eine betroffene Person ihr Schweigen bricht: es trauen sich immer mehr, persönliche Erlebnisse und Gewalterfahrungen werden öffentlich und Opfer rechnen mit ihren Täter*innen ab. Ich habe das Gefühl, dass die Enttabuisierung in unserer heutigen Gesellschaft eher ins Rollen kommt als es noch vor zehn Jahren der Fall war. Menschen schaffen ein Bewusstsein, indem sie ihre persönlichen Geschichten teilen und anderen Mut machen es ihnen gleich zu tun. Solche Menschen fungieren meines Erachtens als Vorbildfunktion, da sie sich ihrer Angst stellen und sich ihrem Erlebnis zur Wehr setzen. Sie tragen einen wesentlichen Teil zur allgemeinen Aufklärung dieser Thematik bei.

Ich wünsche mir für die Zukunft sehr, dass solche »Tabuthemen« andauernd thematisiert werden. Soziale Medien, Tagesblätter oder das Fernsehen haben eine enorme Reichweite und könnten so viel mehr Menschen – egal welchen Alters – erreichen und wachrütteln. Ich weiß aber auch, dass ich selbst einen Beitrag dazu leisten kann. Ich kann mit Familie und Freunden enttabuisierende Gespräche führen, auf meinen Social-Media-Kanälen aufmerksam machen und noch so viel mehr. Ich fühle mich nach dieser Vorlesung ehrlich gesagt dazu verpflichtet, als Betroffene und angehende Sozialarbeiterin einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Ich bin wertvoll mit meinen Erfahrungen und kann vermutlich vielen anderen Personen helfen. Meine Erkenntnis: Dafür, dass so viel passiert, passiert viel zu wenig!

 

Von Priska Müller

Zurück