Hochschulkommunikation

News

Das wirst Du nicht los, das verfolgt Dich ein Leben lang!

Am Montag, 8. April 2019, sprachen Dr. Dirk Schindelbeck, Historiker und freier Autor, und Helmut Roemer, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe der Waisenhausstiftung Freiburg, über die Geschichte des städtischen Waisenhauses in Freiburg-Günterstal. Als weitere Gäste begrüßte die DHBW VS rund 40 Schülerinnen und Schüler der Fachschule für Sozialpädagogik – Jugend- und Heimerziehung der Zinzendorfschulen.

Roemer und Schindelbeck skizzierten zu Beginn des Abends die Auslöser für die gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte des Waisenhauses in Freiburg-Günterstal. „Immer wieder sprachen uns Menschen an, die früher im Waisenhaus Freiburg-Günterstal lebten, mit der Bitte, Dokumente und Fotos zu erhalten“, so Roemer. Doch bis auf die Ein- und Austrittsbücher lagen ab 1945 keine Dokumente vor.

Die Waisenhausstiftung Freiburg entschied sich daraufhin 2011 die Geschichte des Waisenhauses seit dem ausgehenden Mittelalter professionell aufarbeiten zu lassen. Gemeinsam mit Schindelbeck plante die Waisenhausstiftung ein Projekt, das die frühe Geschichte und zeitgeschichtliche Aufarbeitung umfassen sollte und mit circa 100 Seiten und 15 exemplarisch geführten Interviews Einblick in die Zeit zwischen 1945 und den 1980er Jahren liefern sollte.

Der Umfang des Projekts und was es bewirkte, war ein anderer als der geplante. Auf rund 570 Seiten in zwei Büchern schildert Schindelbeck das Leben der Waisen in der von vinzentinischen Nonnen geführten Einrichtung. Aufgrund der dünnen Quellenlage rief die Stiftung Personen, die ehemals im Waisenhaus Freibunrg-Günrerstal lebten, dazu auf, sich bei ihr zu melden. In einem offenen Interview, also ohne festen Fragenkatalog oder vorformulierte Antwortmöglichkeiten, sprachen 75 von 90 Personen die sich nach dem Aufruf meldeten mit Schindelbeck über ihre Vergangenheit im Waisenhaus. In den erstellten Portraits kommen die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner dank vieler Zitate häufig selbst zu Wort und berichten von Schikanen wie der Unterhosenkontrolle oder der Essensregulierung bei Dr. Schindelbeck während seines Vortrags„Verstößen“, über psychische und physische Gewalt und sexuelle Übergriffe. Aber auch über die „kleine Freiheit“ – ein Wochenendausflug zu einer Gastfamilie, der aufgrund des offenen Systems des Waisenhauses zumindest einzelnen Kindern zu Teil wurde.

„Das Kind ist nicht geeignet für eine Adoption“

Die Kinder hatten ein schweres Los: die Bildung der Kinder und Jugendlichen war während des 19. Jahrhunderts noch darauf ausgelegt, stereotypisch geschlechterspezifische Grundkenntnisse vermittelt zu bekommen. Das Rechnen, Schreiben und Zeichnen etwa, oder für die Mädchen das Stricken, Spinnen und Grundfertigkeiten der Nähkunst. Eine weiterführende Ausbildung oder der Besuch eines Gymnasiums war ohne die Patronage einer Bezugsperson zu dieser Zeit nicht möglich. Zu Hochzeiten nahm das Waisenhaus bis zu 190 Kinder und Jugendliche auf. Seuchen und eine hohe Kindersterblichkeit waren besonders in den 1920er Jahren zu verzeichnen. Während des Nationalsozialismus rekrutierten die Machthabenden Jugendliche gerne aus Waisenhäusern. Dort gab es selten Widerspruch gegen die Rekrutierung und keine Bezugsperson, die sich für das Wohl des Kindes bzw. Jugendlichen einsetzte. Dies galt auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die im Zuge der Euthanasie durch die Nationalsozialisten, und nach Verlegung in andere Heime, in sogenannten „Kinderfachabteilungen“ ermordet wurden.

Stellte nach den Kriegsjahren das Jugendamt Anfragen bezüglich der Vermittlung von Kindern zur Adoption, lag es am Waisenhaus diese zu befürworten oder zu verweigern. Im Falle von Sonja T. entschied das Waisenhaus: „Das Kind ist nicht geeignet für eine Adoption“. Im Nachhinein erwies sich dies als falsch. Eine Patientin der medizinischen Abteilung des Hauses baute während ihres Aufenthalts ein Vertrauensverhältnis zu Sonja auf. Sie adoptierte sie nach ihrer Entlassung. Sonja lebte anschließend viele Jahre auf ihrem Bauernhof in Lenzkirch.

Das Waisenhaus war auch Anlaufstelle für jene, die eine günstige Arbeitskraft, etwa für Arbeiten auf ihrem Hof suchten. Als „Hütebuben“ wurden eher die kräftigen Jugendlichen in eine Gastfamilie aufgenommen. Sie verließen dann die Gemeinschaftsunterkünfte des Waisenhauses und tauschten die nicht existente Privatsphäre im 18-Betten Schlafsaal ungefragt gegen körperliche Arbeit aus.

„Die Ergebnisse des Projekts verdeutlichen allerdings auch, dass auch die Nonnen ausgebeutet und verheizt wurden“, so Schindelbeck. „Mit vielen Situationen waren sie aufgrund der eigenen dürftigen Ausbildung schlichtweg überfordert.“ Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zeichnete es sich ab, dass die Nonnen das Waisenhaus nicht länger führen würden. Mitte der 1970er, auch bedingt durch eine Strafanzeige gegen eine Nonne, übernahmen Erzieherinnen und Erzieher die Arbeit im Waisenhaus. Die Auswirkungen der jahrzehntelang praktizierten Zwangspädagogik erschwerten ihre Arbeit massiv. 1985 brach man die Strukturen und die Idee des zentralen Hauses auf und richtete einzelne Wohngruppen ein.

Nach einer Fragerunde schloss Roemer mit dem Aufruf an die angehenden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Fachkräfte im Kinder und Jugendbereich stets Partizipation zu ermöglichen und betonte die hohe Bedeutung von Beziehungsarbeit. „Die Beziehungsarbeit zu den Kindern und Jugendlichen muss mit einer respektvollen Distanz professionell gestaltet werden. Schaffen Sie Räume für Partizipation und bieten Sie den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich an Sie als Bezugsperson wenden zu können, in dem Wissen, dass sie respektiert und geachtet werden.“

Angestoßen vom gemeinsamen Projekt der Waisenhausstiftung Freiburg und Dr. Schindelbeck finden inzwischen seit mehreren Jahren Ehemaligentreffen statt. Sie bietet Raum für Begegnung und Austausch.

Mit diesem Vortrag endet die dreiteilige Vortragsreihe. Die Wanderausstellung "Verwahrlost und Gefährdet? - Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975"gastiert noch bis 30. April 2019 an der DHBW Villingen-Schwenningen. Organisiert wurden Ausstellung und Vortragsprogramm vom Studiengang ‚Jugend-, Familien- und Sozialhilfe‘, konkret von Melanie Geiges, Prof. Dr. Barbara Schramkowski und Prof. Dr. Andreas Polutta.

Weitere Informationen:

Dirk Schindelbeck, Waisenhausstiftung Freiburg, 2013: Das wirst Du nicht los, das verfolgt Dich ein Leben lang! Die Geschichte des Waisenhauses Freiburg-Günterstal.

Waisenhausstiftung Freiburg (Hg.), Dirk Schindelbeck, Freiburg 2014: Wir waren nur verhandelbare Masse. Nachkriegsschicksale aus dem Waisenhaus in Freiburg-Günterstal.