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Das Kinderheim der Nachkriegszeit als „totale Institution“?

Bericht zum Campus Nachmittag am 13. März 2019

„Was können wir aus der Geschichte pädagogischer Einrichtungen lernen und wie lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse heute nutzbringend einsetzen?“ Zu Beginn des vom Studiengang ‚Soziale Arbeit: Jugend-, Familien- und Sozialhilfe‘ organisierten Campusnachmittags begrüßte Prof. Dr. Andreas Polutta die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und leitete thematisch ein. Eine „totale Institution“ charakterisiere sich im Sinne des Anthropologen und Soziologen Erving Goffmann als eine Einrichtung, die alle Lebensbereiche durchdringe und regle, so Polutta weiter. „Man kann von struktureller Gewalt sprechen, in der das Individuum und das Selbst verloren gehen.“

Doch wie lassen sich psychische, physische und sexualisierte Gewalt in Heimeinrichtungen verhindern? Welche Maßnahmen sollten aus der Aufdeckung und den Erfahrungen vergangener Missbrauchsfälle gezogen werden? Hierzu sprach Prof. Dr. Barbara Schramkowski. Sie berichtete unter anderem über zentrale Ergebnisses eines empirischen Forschungsprojektes von Jan Pöter und Martin Wazlawik (s.u.). Das Projekt hatte zum Ziel, Risikobedingungen in Einrichtungen herauszuarbeiten und Konsequenzen für die Gestaltung des pädagogischen Handelns in diesen abzuleiten.

Risikostrukturen aufdecken und vermeiden

Als Gefährdungsfaktoren benannte Schramkowski die Abgrenzung zur Außenwelt, darunter geschlossene Einrichtungen, eine mangelhafte Ausstattung, die auch fehlende Rückzugsmöglichkeiten miteinschließe sowie fachliche Defizite der Mitarbeitenden. „Auch strukturelle Defizite, wie das Fehlen einer Beschwerdestelle oder die ausbleibende Dokumentation von Grenzüberschreitungen sollten als Gefährdungsfaktoren ernstgenommen werden“, führte Schramkowski fort. „Autoritäre, hierarchische Machtverhältnisse, Darstellungen der Kinder und Jugendlichen als defizitär, fehlende Positivbeziehungen zu Fachkräften und die Unterdrückung und Tabuisierung von Körperlichkeit und Sexualität können Übergriffe und Gewalt begünstigen. Ihnen muss deshalb präventiv vorgebeugt werden.“

Präventiv könne eine Einrichtung auf drei Ebenen aktiv werden: 1. in ihrer Struktur, 2. in ihrer Professionalität und 3. in ihrer Kultur.

Personelle Ressourcen, Kontrollinstanzen, Regelungen – etwa bei Gewaltvorfällen – betreffen die Struktur. Für das Handeln der Fachkräfte, also ihre Professionalität, ist ein reflektiertes Grenzbewusstsein hinsichtlich Nähe und Distanz der Mitarbeitenden sehr wichtig. Professionelles Arbeiten zeichnet sich weiter dadurch aus, dass es frei von Gewalt ist und eine offene Auseinandersetzung mit den Themen Sexualität und Gewalt zulässt. Und auch die Organisationskultur kann Risikostrukturen aufbrechen. Dazu bietet es sich für die Einrichtung an, offen aufzutreten und Partizipation und Austausch zu begrüßen.

„Ich wurde heimisch in der Heimatlosigkeit“

Einen ganz persönlichen Zugang zu diesem Thema bot Clemens Maria Heymkind. Der Autor war zu Gast am Campus Nachmittag und las aus seinen autobiographischen Werken „Verloren im Niemandsland“ und „Schattenkind, vergiss mein nicht“. Heymkind sprach zwischen den vorgetragenen Kapiteln über seine Erfahrungen, Empfindungen und die damaligen Gegebenheiten und verortete so für die Zuhörenden die einzelnen Passagen in seinem Lebensweg. Er sprach darüber, wie er von einer Einrichtung an eine Pflegefamilie „überstellt“ wurde, wie er Zuflucht in seinen Gedanken fand, berichtete über ein gebrochenes Selbstwertgefühl und das Gefühl nicht zugehörig zu sein. „Ich wurde heimisch in der Heimatlosigkeit“, so Heymkind als er den Wechsel zwischen den verschiedenen Einrichtungen beschrieb, bevor er in das Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf in Wahlwies zog, heute eine Duale Partnereinrichtung im Studiengang ‚Jugend-, Familien- und Sozialhilfe‘.

In einem Austausch am Ende der Veranstaltung beantwortete Heymkind offene Fragen des Plenums.

Clemens Maria Heymkind

Weitere Informationen:

Der Campus Nachmittag fand im Rahmen der Wanderausstellung "Verwahrlost und Gefährdet? - Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975" statt. Die Ausstellung gastiert vom 26. Februar bis 30. April 2019 an der DHBW Villingen-Schwenningen und kann werktags von 8:00 bis 18:00 Uhr in der Schramberger Straße 26 besichtigt werden. Der Eintritt ist frei.

Literatur zum Campus Nachmittag:

  • Clemens Maria Heymkind, Schattenkind, vergiss mein nicht: Die Überwindung eines Traumas, Verlag Urachhaus 2018.
  • Clemens Maria Heymkind, Verloren im Niemandsland: Autobiografische Erzählung eines Heimkindes, Rombach Verlag KG, 2015.
  • Dipl.-Päd. Jan Pöter, Jun.-Prof. Dr. Martin Wazlawik: Pädagogische Einrichtungen sicher(er) machen. Risikobedingungen sexualisierter Gewalt und Konsequenzen für die Gestaltung von Prävention, in: Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, Bd 21 (2018), Ausgabe 1, S. 34-45.
v.l. Clemens Maria Heymkind mit Tochter, Prof. Dr. Barbara Schramkowski, Prof. Dr. Andreas Polutta und Prof. Dr. Torsten Bleich
v.l. Clemens Maria Heymkind mit Tochter, Prof. Dr. Barbara Schramkowski, Prof. Dr. Andreas Polutta und Prof. Dr. Torsten Bleich